“Das Aufkommen indigener Theologien (und in geringerem Masse indigener Philosophien)n den letzten Jahren hat die starke und lang andauernde Inkulturation der offiziellen christlichen Theologien der verschiedenen Kirchen in einen abendländischen Kontext augenscheinlich gemacht. Oder in einem konkreteren und spezifischeren Sinne: die stark abendländische und hellenistische Farbe ihrer Sprache und Konzeptualisierungen, sowohl in der katholischen als auch in den evangelischen Kirchen. Seit den 1990er Jahren, als die Befreiungstheologie scheinbar gezähmt war, haben die Glaubenshüter des Vatikans vor allem zwei theologische Ansätze ins Visier genommen: die indische Theologie und die „indianische“ Theologie.
In beiden Fällen haben wir es mit einer radikalen Infragestellung des abendländischen konzeptionellen Paradigmas als philosophischem Rahmen für den theologischen Ausdruck von bestimmten Dogmen, wie etwa der Stellung von Jesus Christus oder dem Gottesbild, zu tun.
In verschiedenen Verlautbarungen der vatikanischen Glaubenskongregation (Nachfolgerin der Inquisition) zur Rolle von Mann und Frau kam in letzter Zeit die Angst der offiziellen Amtstheologie vor all jenen Positionen zum Ausdruck, die die androzentrischen Grundlagen der abendländischen Kultur, Theologie und Philosophie radikal in Frage stellen, wie etwa der Feminismus, die Gender-Debatte oder indigene und nicht-abendländische philosophische Paradigmen.
Im Moment sehe ich zwei große Herausforderungen für die kontextuellen christlichen Theologien auf der ganzen Welt, sei es in katholischer oder evangelischer Perspektive:
Einerseits die Herausforderung einer radikalen Enthellenisierung des – oft unbewussten und symbiotischen – konzeptionellen und philosophischen Rahmens, und andererseits eine Dekonstruktion des Androzentrismus, wie er in der großen Mehrheit der klassischen abendländischen Theologien beheimatet ist. Diese beiden Herausforderungen erfordern eine miteinander verbundene doppelte Hermeneutik: eine interkulturelle oder „diatopische“ Hermeneutik und eine Gender-Hermeneutik, die weit mehr ist als eine feministische Hermeneutik. Wie ich eben explizit ausgeführt habe, scheint es mir, dass die philosophische Alterität, in diesem Fall die Andine Philosophie, enorm viel dazu beitragen könnte, diese Herausforderungen zu formulieren und ein paar Wege für deren Dekonstruktion und Rekonstruktion vorzuzeichnen, und zwar sowohl für die philosophische Arbeit wie für die Theologie. Im Folgenden möchte ich im Sinne einer andinen Kritik am herrschenden Androzentrismus der abendländischen Tradition einen Input für eine „diatopische“ Gender Hermeneutik versuchen.
Die Andine Philosophie geht – wie etwa auch die vedische Tradition Indiens – vom Begriff des „Nicht-Dualismus“ der Wirklichkeit aus, was nicht dasselbe ist wie ein metaphysischer Monismus. Die Wirklichkeit, also alles was existiert und vorgestellt werden kann, wird nicht als in unvergleichliche oder gar widersprüchliche Aspekte und Sphären aufgespalten aufgefasst: das Göttliche und Menschliche, das Wahre und Falsche, das Himmlische und Irdische, das Religiöse und Profane, das Männliche und Weibliche, das Lebendige und Tote, das Ewige und Zeitliche.
Die vorherrschende abendländische Tradition dagegen – seit der platonischen Philosophie bis zur Phänomenologie und analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts – ist stark von dieser Art von (theologischem, metaphysischem, epistemologischem, ethischem, logischem) Dualismus geprägt, der in einer expliziten und folgenreichen Art und Weise im Prinzip der exklusiven Logik (Widerspruchs-, Identitäts- und Zweiwertigkeitsprinzip) zum Ausdruck kommt: Entweder das Eine oder das Andere, aber eine dritte Möglichkeit gibt es nicht (tertium non datur). Entweder Gott oder der Mensch, entweder Geist oder Materie, entweder Kultur oder Natur, entweder Mann oder Frau.
Die Andine Philosophie denkt in polaren Dualitäten und nicht in Dualismen, und ihr grundlegendes Prinzip ist das der Relationalität, heruntergebrochen in die Axiome von Komplementarität, Korrespondenz und Reziprozität. Die Aufspaltungen von Subjekt und Objekt, von Religiösem und Profanem, von Göttlichem und Menschlichen, von Lebendigem und Nicht-Lebendigem, diese typisch hellenistischen (und bis zu einem gewissen Grad auch semitischen) Diastasen haben für die andine Weltanschauung keine Gültigkeit. Mir scheint, dass das Bedürfnis, die verschiedenen Aspekte der Wirklichkeit aufzuspalten und analytisch zu „reinigen“, ein typisch männliches Bedürfnis ist.
Als Mann tue ich dies tatsächlich auch in eben diesem Augenblick. Und es ist keineswegs etwas Schlechtes an sich, aber wenn diese androzentrische Herangehensweise, die Welt zu erfassen und zu gestalten, zur einzig möglichen, zum universell gültigen Paradigma und zum einzig wahren Pfad der Erlösung wird, wird sie neurotisch und verheerend.
Das berühmte römische Divide et impera ist wohl der klarste und politisch konsequenteste Ausdruck der androzentrischen Tendenz, die Wirklichkeit, die Welt und Geschichte, ja sogar das Göttliche zu begreifen (dabei steckt schon in diesem Wort des „Be-greifens“ der Ansatz einer erobernden und besitzergreifenden Männlichkeit) und diese zum „Begriff“ zumachen. Der männliche analytische Geist („Analyse“ meint wörtlich „auseinandernehmen“, „in die Bestandteile zerlegen“) ist grundsätzlich anatomisch (tomein: „schneiden“), zerlegend, mechanisch, instrumentell, destruktiv. Um das Leben (eine Pflanze, ein Tier, einen Menschen) zu analysieren, müssen wir es in Teile zerlegen und das voneinander trennen, was eigentlich untrennbar ist, mit dem Ergebnis, das Leben selbst zu zerstören. Jede synthese des Lebens, die auf dem Ergebnis einer tatsächlichen Analyse aufbaut, stellt sich als künstlich und roboterhaft heraus. Die Andine Philosophie stellt die wesentliche Komplementarität von allem Existierenden in der Form der Ganzheitlichkeit (Integralität; Holismus) dar. Die komplementären Aspekte können nur auf Kosten ihrer eigenen Integrität und Ganzheitlichkeit vom Ganzen getrennt werden; das holistische Prinzip fällt in letzter Konsequenz mit dem Lebensprinzip zusammen.
Es gibt kein Leben in isolierter Form, sondern nur in und durch ein Netz komplementärer Beziehungen. Man könnte das andine Denken als „gynosophisch“ bezeichnen, insofern wir die Fähigkeit zu synthetisieren, Beziehungen und Bindungen aufzubauen, zu vermitteln und zusammenzuführen als etwas typisch Weibliches identifizieren.
Ich nehme dabei nicht Bezug auf den so genannten „Pachamamismus“ oder eine Art andines Matriarchat, sondern auf die grundlegende Struktur andinen Denkens, wie sie wahrscheinlich sogar von den Subjekten desselben (also dem andinen Volk) selber kaum wahrgenommen wird. Die transversalen und paradigmatischen Prinzipien von Relationalität, Komplementarität, Korrespondenz, Reziprozität, Ganzheitlichkeit und Zyklizität scheinen einer weiblichen Lebensweise und „In-der-Welt-Stehen“ (Kusch) näher zu sein als einer männlichen.
Die Andine Philosophie besteht darauf, dass die sexuelle Komplementarität nicht nur ein grundlegendes Merkmal der menschlichen Spezies ist, sondern sich weit über die Menschheit hinaus erstreckt und sogar über das tierische und pflanzliche Leben hinausreicht und somit den ganzen Kosmos und sogar das Göttliche umfasst.
Bei anderer Gelegenheit habe ich diese transzendentale Kategorie der andinen Kosmovision „kosmische Sexuität“ genannt, die sowohl die biologische Sexualität (sex) als auch das soziologische Geschlecht (gender) bei weitem übersteigt. Kosmische Sexuität impliziert, dass alle Phänomene dem Prinzip der Komplementarität zwischen dem Weiblichen und Männlichen gehorchen, das natürlich mit Sexualität und Gender zu tun hat, aber das diese beiden Aspekte in vielfältiger Weise transzendiert. Die „sexuierte“ Komplementarität von Sonne und Mond greift zum Beispiel Aspekte der menschlichen Erfahrung und der sozialen Konstruktion des Geschlechtes (Gender) auf (Tag und Nacht; helles und fahles Licht), transzendiert sie aber zugleich. Das Leben reproduziert sich nur als Ergebnis dieser „sexuierten“ Komplementarität und würde sich selbst zerstören, wenn einer der beiden komplementären Aspekte verschwinden sollte.
Für die Theologie stellt die „andine Gynosophie“ eine Reihe von tiefgreifenden Fragen, und zwar sowohl auf der Ebene der Theologie im engeren Sinne (Begriff und Bild des Göttlichen), wie auch bezüglich Christologie, Soteriologie, Pneumatologie und Ethik. Ich werde die Konsequenzen für die kirchliche Institutionalität hier nicht diskutieren, wie etwa die Ämter und Charismen, die pastorale Sorge und theologische Ausbildung. Ich werde sie im Rahmen dieser Arbeit nicht in Betracht ziehen, da dies andere mit viel mehr Erfahrung und Kompetenz zu tun fähig sind, aber es handelt sich zweifellos um ein weites und noch weitgehend unbearbeitetes Feld.
Für die vorherrschende abendländische Philosophie und dessen Androzentrismus stellt das andine Paradigma eine ernsthafte Anfrage und Einladung dar, seine eigenen ideologischen Grundlagen zu bedenken und zu dekonstruieren. Ich möchte an dieser Stelle nur einige Bereiche nennen, die meines Erachtens offensichtlich etwas mit der erwähnten androzentrischen Rationalität zu tun haben, ohne die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass noch immer vorwiegend Männer die Protagonisten dieser Philosophie sind und man(n) die Philosophinnen in der Geschichte der abendländischen Philosophie normalerweise einfach vergisst, es sei denn, sie haben sich die männliche Rationalität zu eigen gemacht.
• Wenn wir erstens von einer Gender-Hermeneutik und einer diatopischen Hermeneutik (im Dialog mit der andinen „Gynosophie“) ausgehen, werden wir die vielen Dualismen der abendländischen Philosophie dekonstruieren müssen, die zur Plünderung der Natur, zur Mechanisierung und Instrumentalisierung des Lebens, zur Unterwerfung und Ausrottung des und der Anderen (alius et alia), zur Quantifizierung und Rationalisierung des Nicht Quantifizierbaren und Irrationalen, sowie zur Monetarisierung der Werte beigetragen haben.
• Zweitens sollten wir die vorherrschende abendländische Rationalität, die sicherlich ausgesprochen viel zum wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt beigetragen hat, aber auf Kosten der Ganzheitlichkeit und Unversehrtheit des Lebens in all seinen Erscheinungsformen, einer interkulturellen und Gender-Kritik unterziehen. So wird die interkulturelle Gültigkeit des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten (principium tertii non datur) ernsthaft in Frage zu stellen sein, als eines Axioms, das den Ausschluss des und der Anderen ausgesprochen stark gefördert hat und eine kämpferische und imperialistische Rationalität beinhaltet. Es gilt, die abendländische analytische Rationalität als monokausal und ethnozentrisch zu enthüllen und diese durch eine synthetische und inklusive Rationalität nicht-abendländischer Traditionen zu ergänzen.
• Drittens müssen wir auch die allgemeine Akzeptanz der androzentrischen Konzeption der Linearität, Progressivität und Irreversibilität der Zeit, wie sie im Abendland vorherrscht, in Frage stellen und durch einen eher „gynosophischen“ Zugang im Sinne der Periodizität, Zyklizität und Wellenstruktur der Zeit ergänzen. Die Fragmentierung und Monetarisierung der Zeit (time is money), wie sie im Abendland vorherrschend ist, hat nicht nur die gängige Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau und die Aufteilung von öffentlicher und privater Sphäre hervorgebracht, sondern auch die Qualität der Zeit und die geschichtliche Dichte von entscheidenden Momenten (kairoi) dem Vergessen anheimgestellt. Während das Abendland eine „korpuskulare“ (oder Quanten-Struktur) und atomare Struktur von Zeit und Geschichte in den Vordergrund stellt, unterstreicht andines Denken vielmehr die „wellenförmige“ und molekulare Vorstellung von Zeit und Geschichte, die viel eher gynomorphen Haltungen entspricht.
• Viertens wird man die ethischen Grundannahmen der vorherrschenden abendländischen Philosophie als stark andro- und anthropozentrisch dekonstruieren müssen. Schon der Begriff der ethischen „Tugenden“ verweist etymologisch und genetisch auf die Männlichkeit (virtus: vir als Mann), mit dem Ergebnis, dass die weiblichen Tugenden (eigentlich muliertutes: da virtutes femininae ein widersprüchlicher Begriff ist) wie Solidarität, Mitleid, Sensibilität, Sorge und praktische Mitverantwortung kaum eine nennenswerte Spur in der abendländischen Ethik hinterlassen haben.
Von Aristoteles bis Heidegger, ist die vorherrschende Ethik des Abendlandes eine solche des männlichen Soldaten (vir) und dessen „Tugenden“ (Kraft, Klugheit, Mut, Durchsetzungsvermögen) und des erobernden menschlichen Subjekts (conquiro ergo sum) gewesen, die zum Ziel hat, das „Andere“ (Frauen, Natur, indigene Völker, Homosexuelle, usw.) den ethischen Kriterien der männlichen und patriarchalen Herrschaft zu unterwerfen. Eine ethische Rechtfertigung des so
genannten „präventiven Krieges“ (in Irak oder Afghanistan) ist nur aufgrund von androzentrischen Grundannahmen möglich. Die Andine Philosophie beinhaltet eine kosmozentrische Ethik, die eine Reihe von Elementen einer weiblichen Spiritualität einschließt, wie etwa die Sorge um die kosmische Ordnung (arariwa) , die geteilte Verantwortung (Korresponsabilität), die Erhaltung des Lebens, das Mitgefühl und die Reziprozität als Grundlage für die Solidarität”.
Josef Estermann
Interkulturelle Philosophie / Andine Philosophie
Eine Anthologie. Digitale Edition
Barcelona 2021