“Menschenbild und Kosmo-Spiritualität im andinen Kontext
Das Individuum „konstituiert“ sich gleichsam aus Beziehungen; der „Person“-Begriff hat in den Anden immer mit vitalen Beziehungen zu tun. Das „Individuum“ – in der europäischen Philosophie oft mit der „Substanz“ und damit Kategorien wie Selbststand, Autonomie, Autarkie, Abgesondertsein verknüpft – „existiert“ eigentlich gar nicht als solches, sondern„lebt“ als Verknüpfung vielfältiger Beziehungen. Man spricht deshalb vom „verbundenen Individuum“ (individuo vinculado); das „abgesonderte“ und von allen Beziehungen losgelöste Individuum gilt in andiner Vorstellung nicht nur als „krank“, sondern dem Tod geweiht. Aber auch „in sich“ (ad intra) ist der individuelle Mensch (runa, jaqi) nicht einfach eine physische oder psycho-physische Einheit („Körper“), sondern lebendiger Ausdruck vielfältiger Beziehungen, die eher im Herzen (sunqu; chuyma) denn im Kopf eine metaphorische
Entsprechung finden. Und damit hat der andine Begriff von „Gesundheit“ und „Krankheit“ mit der Qualität dieses inneren und äußeren Beziehungsgeflechtes zu tun.
Im Falle von „Gesundheit“ wird diese Qualität als „Gleichgewicht“ oder „Harmonie“, im Falle von „Krankheit“ als „Ungleichgewicht“ oder „Disharmonie“ umschrieben. In den indoeuropäischen Sprachen wendet man den Gesundheits- und Krankheitsbegriff, der zuerst und zumeist auf lebendige Wesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) bezogen wird, auch auf Phänomene an, die je nachdem zu Gesundheit oder Krankheit von Lebewesen beitragen:
„gesundes“ Klima; „kranke“ Institution; „gesunde“ Wirtschaft; „kranke“ Beziehungen, usw. Im andinen Verständnis sind diese (und viel mehr) Phänomene nicht deshalb „gesund“ oder „krank“, weil sie zur Gesundheit oder Krankheit von Lebewesen beitragen, sondern sie sind in sich „gesund“ oder „krank“, bzw. im Gleichgewicht oder eben aus dem Gleichgewicht. Die Prinzipien, die Gleichgewicht und Ungleichgewicht bestimmen, sind jene von Korrespondenz, Komplementarität, Reziprozität und Zyklizität, welche ihrerseits auf dem Axiom der Relationalität fußen.
Eine Dorfgemeinschaft ist in dem Maße „gesund“, als sie in Korrespondenz mit meteorologischen und astronomischen Phänomenen der „oberen“ (hanaq/alax pacha) und „unteren“ Region (uray/manqa pacha) steht, in sexuierter Komplementarität mit Bergspitzen und damit den Urahnen, möglichst vollkommene Reziprozität lebt (mit der Pachamama, mit den Verstorbenen, mit den Schutzgeistern) und die rituelle, spirituelle und agrarische Zyklizität (Zeiten von Aussaat und Ernte; Zeiten der Ruhe; rituelle Zeiten) beachtet. Dies gilt analog auch für eine Region, ein Land, den Planeten Erde und das gesamte Universum (Pacha). Dabei sind die Chakanas (kosmische Brücken) im Sinne von Übergangsphänomenen besonders wichtig, die deshalb auch eine besonders wichtige rituelle Bedeutung haben. Für das Thema „Gesundheit-Krankheit“ sind besonders dasMe erschweinchen, das Hühnerei, Nelkenblätter und das Kokablatt als Indikatoren für die Diagnose, Alkohol, Tabak, Heilkräuter und Weihrauch als Katalysatoren für die Heilung, sowie die Mittagszeit, Mitternacht, Sonnenwenden und andere Kairoi als rituelle Verdichtungen von großer Bedeutung. Bei allen handelt es sich um Chakanas, also pachasophische „Brücken“ oder Vermittlungen.
Eine der wichtigsten Chakanas im Kontext von Krankheit und Gesundheit ist der/die andine „RitualistIn“ oder HeilerIn selbst. Diese Funktion kann man oder frau – bei den Aymara gibt es auch weibliche Schamaninnen – nicht einfach wie im Falle der westlichen Bio-Medizin – erlernen und sich aufgrund von akademischem und praktischem Wissen aneignen. Man oder frau wird in den Anden zur Schamanin oder zum Schamanen auserwählt, und zwar von kosmischen oder meteorologischen Chakanas wie dem Blitz, einer Sonnenfinsternis oder genetischen Besonderheiten (sechs Finger oder Zehen, Buckel usw.). Der eurozentrisch verwendete Begriff „SchamanIn“ existiert natürlich in den indigenen Sprachen der Anden nicht und wird niemals als endogene Bezeichnung verwendet. Auf Aymara heißt der oder die „RitualistIn“ (in einem sehr allgemeinen Sinne) yatiri („der oder die Wissende“), auf Quechua yachaq („der oder die Wissende“) oder paq’u. Unter den „RitualistInnen“ gibt es viele Differenzierungen, je nach Funktion und Zielsetzung, Wichtigkeit und Umfang des Rituals, das jemand abhält. So gibt es Yatiris oder Paq’us für den Tribut für die Mutter Erde (pago a la pachamama), für eine gute Reise, für den Hausbau,
das Vieh, ein Geschäft, eine gute Schwangerschaft und Geburt, und eben auch solche für Gesundheit-Krankheit.
Diese als Hampiq (Quechua) oder Qulliri (Aymara) bezeichneten „HeilerInnen“ verstehen ihre Tätigkeit immer im Sinne der (rituellen) Wiederherstellung des (gestörten) Gleichgewichtes und nicht einfach als Beitrag zum physiologischen Genesungsprozess und medizinischer Therapie. Da Gesundheit und Krankheit nicht einfach das Ergebnis von Kausalketten (etwa: Virus → Krankheit) und physiologischen Prozessen eines individuellenOrganis mus sind, sondern die Erhaltung oder Störung der personalen, sozialen, spirituellen und kosmischen Harmonie darstellen, bedeutet „Heilung“ denn auch nicht eine auf kausalen
Zusammenhängen aufbauende Regeneration und die Bekämpfung von Krankheitsursachen mit entsprechenden pharmakologischen „Gegengiften“. Vielmehr beinhaltet Heilung eine rituelle und auf symbolischer Repräsentation basierende „Vermittlung“ von zuvor getrennten Bereichen, die neben den erwähnten tierischen und pflanzlichen Chakanas als „Katalysatoren“ (unter denen das Kokablatt eine vorrangige Rolle einnimmt) eine spirituelle Dimension beinhaltet”.
Josef Estermann
Interkulturelle Philosophie / Andine Philosophie
Eine Anthologie. Digitale Edition
Barcelona 2021