“Einer der wichtigsten „blinden Flecken“ jeglichen Denkens ist die jeweilige kulturelle und zivilisatorische Zentriertheit, die man im Sinne einer menschlichen Bedingtheit auch als „Perspektivität“ oder „Standpunktgebundenheit“ bezeichnen kann.
Solange dieser Umstand im Sinne einer interkulturellen Vergewisserung auch als „Kontextualität“ erkannt und sgewiesen wird, ist keine Rede von „Eurozentrismus“ oder einer anderen Form von Zentrismus. Sobald aber die eigene (kontextuelle) Perspektive als meta-kontextueller Universalismus oder supra-kulturelle Wahrheit daherkommt, ist konstruktive Kritik durch die philosophische Alterität vonnöten. Und diese betrifft insbesondere die folgenden Aspekte abendländischen Denkens:
a. Die Andine Philosophie stellt die Universalität der (vorherrschenden) logozentrischen Rationalität der abendländischen Philosophie in Frage, die sich durch die Prinzipien der zweiwertigen formalen Logik des Widerspruchprinzips, des Identitätsprinzips und des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten leiten lässt.
Diese ausschließende Rationalität steht im Kontrast zur einschließenden Rationalität der Anden (aber auch von ostasiatischen und anderen außer-abendländischen Philosophien), welche die Gegensätze im Sinne von komplementären Polaritäten und nicht von wechselseitig sich ausschließenden Widersprüchen interpretiert. Die Universalisierung dieser Prinzipien der abendländischen formalen Logik führt zu einem Logizismus und der Verdrängung anderen Ausdruckformen wie den Gefühlen, der Intuition, des Symbols und der Analogie, die übrigens eher weibliche Denkformen sind als das männliche „Schwert des Verstandes“.
b. Die Andine Philosophie stellt die abendländischen Dichotomien zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Welt, zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendem, zwischen Heiligem und Profanem, ja sogar zwischen Göttlichem und Weltlichem radikal in Frage. Diese Art der Dichotomisierung der Wirklichkeit führt zu einer dualistischen Aufteilung, einem System der doppelten Wahrheit und einer Ethik sektorialer Gültigkeit. Es stimmt, dass die Entzauberung der Welt durch die abendländische Philosophie zum wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt beigetragen hat, aber dieser ist seinerseits wieder verzaubert worden und hat sich zu einer neuen Gottheit entwickelt. Die Andine Philosophie geht von der Überzeugung aus, dass jede Dichotomie und Aufspaltung in Bereiche, Räume und Sphären zu einer schwerwiegendenBeeinträchtigung des kosmischen Gleichgewichts und Integrität führen. Die Trennung der „Natur“ (als materielle und mechanische res extensa) von der menschlichen Welt (als geistige und spontane res cogitans) führt zu einer suizidalen Verunstaltung der Umwelt, wie wir heute sehen können. Und die radikale Dichotomie zwischen Göttlichem und Weltlichem führt zu einer Vergöttlichung des Weltlichen im Sinne einer Idolatrisierung von kontingenten Aspekten wie zum Beispiel Fortschritt, Genuss, Geld oder Markt.
c. Die Andine Philosophie kritisiert die im Westen vorherrschende reduktionistische Epistemologie, die beansprucht, mittels der beiden menschlichen Quellen der Vernunft und der Sinneswahrnehmung die volle Wahrheit zu erkennen. Diese Reduktion führt aber zu einer szientistischen Konzeption der Wahrheit und schließt alternative Quellen von Erkenntnis aus, wie Glaube, Intuition, Gefühle, Rituale, Feier oder künstlerische Darstellung. Die Andine Philosophie setzt dagegen auf eine ganzheitliche Epistemologie, die das Menschengeschlecht als Erkenntnissubjekt bei weitem übersteigt. Erkenntnis ist eine Qualität und Fähigkeit aller Seienden, seien diese menschlich oder nicht-menschlich, beseelt oder „unbeseelt“ (ähnlich wie dies im Abendland Leibniz vertritt). Und diese Erkenntnis erreicht man auf vielen Wegen wie etwa dem Ritual, der Feier, der Trance, der symbolischen Darstellung oder der mystischen Vereinigung. Diese Kritik stellt die Eindimensionalität des abendländischen Wissens in Frage, wie es in einer technologieförmigen Medizin, der monokausalen Erklärung von Ereignissen, der Rationalität und Sprachlichkeit des Unterbewussten oder dem unwiederbringlichen Fortschreiten der Zeit zum Ausdruck kommt.
d. Die Andine Philosophie stellt schließlich auch die Institutionalität und Akademizität der abendländischen Philosophie in Frage, die zusehends zu einer intellektuellen Übung von Texten über Texte (also nach Nietzsche eine wiederkäuende“ Philosophie), zu einer intertextuellen Hermeneutik verkommen ist, die den Kontakt mit der unmittelbaren Wirklichkeit verloren hat. Die akademische Forderung des Westens, dass niemand sich zu dem äußern dürfe, was geschehen ist, geschieht oder sich verbirgt, wenn er oder sie sich dabei nicht explizit auf die gesamte Ideengeschichte (des Abendlandes) beziehe, also das Aufblähen des kritischen Apparates und dessen Vorherrschaft über die Originalität der Gedanken, ist ein Merkmal, das in keiner Weise universalisierbar ist. Das philosophische Schaffen leitet sich nicht durch die Kriterien der Verschriftlichung (publish or perish) und intertextuellen Verweisung, wie es ja auch Beispiele aus der abendländischen Tradition selbst zeigen (z.B. Sokrates).
Die Andine Philosophie ist in erster Linie eine gelebte Philosophie, ohne auf Texte oder AutorInnen zurückzugreifen, in direktem Kontakt mit der von Männern und Frauen im andinen Kontext erlebten und gedachten vielfältigen Wirklichkeit. Diese Kritik stellt zudem die abendländischen akademischen Standards in Frage, die praktisch allen Institutionen höherer Bildung in der ganzen Welt auferlegt worden sind und es noch immer”
Josef Estermann
Interkulturelle Philosophie / Andine Philosophie
Eine Anthologie. Digitale Edition.Barcelona 2021