Die Inka-Kultur hat sich im ganzen Andenraum, vom Süden Kolumbiens bis zum Norden Chiles, verbreitet. Ihr Zentrum war Cusco (Qusqu: „Nabel der Welt“), die alte Hauptstadt des Tawantinsuyu, des „Imperiums der vier Reiche“. Die Inkas waren die Erben anderer Völker der Region, wie etwa die Wari, Tiwanaku, Pukina oder Uru, die von ihnen im Laufe von drei Jahrhunderten erobert worden sind. Das Tawantinsuyu erreichte seinen Zenit im 15. Jahrhundert und wurde ab 1521 von Francisco Pizarro erobert. Auch wenn es nicht ganz richtig ist, von einer „Inka-Philosophie“ zu sprechen, die der gemeinsame Nenner der andinen Kulturen wäre, so kann man in der Inka-Kultur und -Weisheit doch die reifste Frucht des vorkolonialen andinen Denkens erblicken.
Das wichtigste und markanteste Merkmal der Inka-Philosophie ist die Relationalität von allem. Die Grundkategorie ist nicht das „Seiende als Seiendes“ (ens inquantum ens) der abendländischen Metaphysik, sondern die Beziehung. Die Grundkonzeption der universellen Relationalität fächert sich in eine Reihe von Prinzipien oder Axiomen auf, die ihrerseits in einer Vielzahl von kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Phänomenen zum Ausdruck
kommen:
a. Das Komplementaritätsprinzip oder Prinzip der Ergänzung. Jedes Seiende und jedes Ereignis haben als Gegenpart eine Ergänzung, im Sinne einer notwendigen Bedingung, um “vollständig“ und fähig zu sein zu existieren und zu handeln. Ein absolut isoliertes Individuum („Monade“) wird als unvollständig und mangelhaft angesehen, solange es
sich nicht mit seinem Gegenpart verbindet.
b. Das Reziprozitätsprinzip oder Prinzip der Gegenseitigkeit. Dieses Prinzip ist die ethische und soziale Anwendung des Komplementaritätsprinzips. Jede menschliche (aber auch göttliche) Handlung erreicht ihr Ziel erst dann, wenn ihr eine entsprechende gleichwertige ergänzende Handlung eines anderen Subjekts gegenübersteht. Eine einseitige Handlung zerstört das labile Gleichgewicht zwischen den Akteuren, sowohl in wirtschaftlicher, organisatorischer, ethischer, als auch religiöser Hinsicht.
c. Korrespondenzprinzip oder Prinzip der Entsprechung. Sowohl die Komplementarität als auch die Reziprozität zeigen sich auf kosmischer Ebene als Korrespondenz zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen Großem und Kleinem. Die kosmische Ordnung der Himmelskörper, die Jahreszeiten, der Wasserkreislauf, die klimatischen Phänomene und sogar das Göttliche finden ihre Korrespondenz (also ihre „entsprechende Antwort“) im Menschen und dessen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen.
d. Das holistische Prinzip. Wenn die Relationalität von allem Sein und Geschehen das Grundprinzip der Inka-Philosophie ist, folgt daraus, dass alles irgendwie mit allem zu tun hat und zusammenhängt. Es gibt weder isolierte und abgetrennte Geschehnisse noch autarke Sub-Systeme. Das Universum ist in seiner Gesamtheit gewissermaßen die einzige Substanz, und all ihre Teile sind miteinander verbunden.
e. Das zyklische Prinzip. Aufgrund der landwirtschaftlichen Erfahrung versteht der Mensch der Anden Zeit und Raum (pacha)86 als etwas, das sich wiederholt. Die Unendlichkeit wird nicht als Linie ohne Ende, sondern als endlose Spiralbewegung aufgefasst. Jede Schleife beschreibt einen Zyklus, sei es hinsichtlich der Jahreszeiten, den Generationenfolgen oder der geschichtlichen Epochen.
Josef Estermann
Interkulturelle Philosophie / Andine Philosophie
Eine Anthologie. Digitale Edition
Barcelona 2021