Der philosophisch-weisheitliche Hintergrund
“Dieser sprachliche Befund wird durch den Rekurs auf die Einbettung des Begriffs suma qamaña/allin kawsay in das Insgesamt der andinen Philosophie und weisheitlichen Tradition weiter erhärtet und erhält eine Verdichtung und spezifische Ausprägungen.
Zunächst soll auf die „metaphysische“ Grundstruktur der andinen Philosophie verwiesen werden, die nicht substanzieller, sondern relationaler Ausprägung ist. Die griechischabendländische Präfiguration der Ontologie durch die Subjekt-Prädikat-Struktur der europäischen Sprachen findet in den Anden Entsprechung – allerdings in einem ganz anderen Sinne – in der Orientierung der „Kosmovision“ an der Verb-Suffix-Struktur des Ketschua und Aymara. Das grundlegende Prinzip (oder Axiom) der „Relationalität“ besagt, dass alles mit allem in Verbindung steht und es keine völlig losgelösten (ab-soluten) Wesenheiten gibt.
Linguistisch gesehen ist das Verb der „Relationator“ par excellence, noch verstärkt durch die vielen Suffixe in den beiden Sprachen, die relationalen Charakter haben. Die Relata sind nicht Ausgangspunkt, sondern vielmehr Ergebnis oder polare Manifestationen der Relatio, ganz im Gegensatz zur aristotelischen Substanz-Metaphysik, wonach die Relation bloßes Accidens, nicht-wesentliches oder kontingentes Merkmal der Seienden (onta) ist Diese fundamentale und allumfassende Relationalität fächert sich im andinen Denken in die Theoreme der Komplementarität, Reziprozität, Korrespondenz, Zyklizität und duale Parität (yanantin) auf. An dieser Stelle soll nicht in den Einzelheiten auf diese Prinzipien eingegangen werden; sie werden aber eine Rolle spielen, wenn es konkret um den Begriff des suma qamaña/allin kawsay und dessen Implikationen für das wirtschaftliche, soziale und politische Leben geht. Es gilt hier bloß zu betonen, dass die abendländische diástasis (im Sinne der Entgegensetzung, des Widerspruchs, der Spaltung und des Ausschlusses) dem andinen Denken wesentlich fremd, ja mit diesem ganz und gar inkompatibel ist. Die Relation ist gleichsam der augenscheinliche Ausdruck des principium tertii datur: zwischen oder jenseits anscheinend einander entgegengesetzten oder widersprüchlichen Wesenheiten, Positionen oder Handlungen gibt es ein „Drittes“. Dass das andine Denken in diesem Sinne dem dialektischen Denken Europas (von Heraklit bis Marx) und Asiens (Daoismus) verwandt ist, braucht wohl nicht eigens hervorgehoben werden.
Dieser „metaphysische“ (oder „pachasophische“) Hintergrund hat unmittelbare Implikationen für das Verständnis des ‚Lebens‘ insgesamt und des menschlichen Lebens im Speziellen. Grundsätzlich besteht im andinen Kontext kein prinzipieller Unterschied zwischen einer „lebenden“ (organischen) und einer „toten“ (anorganischen) Wirklichkeit. In gewissemSinne „lebt“ die gesamte pacha oder (zeitlich-räumliche) Wirklichkeit (Hylozoismus), was sich etwa in der Vorstellung ausdrückt, dass auch Berge, Flüsse, Felsen, Seen oder Höhlen „beseelt“ sind und ihre jeweiligen schutzgeister (achachilas, apus) haben. Das Universum ist ein „lebendiger“ Organismus, der gesund oder krank sein kann, was sich in den Kategorien von ‚Gleichgewicht‘ und ‚Harmonie‘, bzw. ‚Ungleichgewicht‘ und ‚Disharmonie‘ ausdrückt. Gemäß dem Prinzip der Korrespondenz gilt dies sowohl für den Kosmos insgesamt (pacha) als auch die verschiedenen Aspekte und Ebenen desselben, die Natur, die menschliche Gesellschaft und die individuelle Person. Leben (qamaña/kawsay) ist also im Andenraum kein Begriff, der sich auf das Biologische oder gar Menschliche beschränkt. Paradoxerweise „leben“ auch die Verstorbenen; Leben und Tod sind keine Gegensätze, sondern polare Ergänzungen der einen allumfassenden Wirklichkeit, die sich in Zyklen regeneriert und damit zu einem Gleichgewicht findet. Für die abendländische Moderne hat sich, ausgehend von Descartes, ein unüberwindlicher Dualismus zwischen der belebten und der unbelebten Wirklichkeit breit gemacht, der allerdings den Begriff des ‚Lebens‘ noch weiter herkürzt und mit den Merkmalen der Spontaneität, Freiheit und Geistigkeit assoziiert hat. Dies hat zur extrem anthropozentrischen Auffassung geführt, dass nur der Mensch (als Geistwesen oder res cogitans) in eigentlichem Sinne „Leben“ hat, während Tiere, Pflanzen und noch vielmehr die anorganische Materie mehr oder weniger komplizierte „Automaten“ sind (res extensa).
„Leben“ im andinen Verständnis hat wesentlich mit Relationalität, Gleichgewicht und Harmonie zu tun. Das Ideal des suma qamaña/allin kawsay wird durch das Ideal einer „kosmischen Gerechtigkeit“ bestimmt, wonach alles und jedes seinen, bzw. ihren „Ort“ oder Funktion hat und sich um das pachasophische Gleichgewicht zwischen Oben und Unten,
Rechts und Links, Früher und Heute, Männlich und Weiblich bemühen muss. Damit kann das „gut Leben“ im andinen Sinne nicht von den Dimensionen der Spiritualität, Religion, Ökologie, Ökonomie, Politik, Ethik und Ritualität getrennt und gleichsam auf die „Lebenswelt“ des Individuums und seiner je persönlichen „Lebensqualität“ eingeschränkt werden. Die meisten Arbeiten zum „Guten Leben“ aus abendländischer Sicht nehmen dass epikureische und womöglich noch aristotelische Ideal eines „selbstgenügsamen“, „ataraxischen“, „apathischen“ oder „bürgerlichen“ (civis) Lebens zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, ohne Fragen der inter-generationalen Verantwortung, kosmischer InterDependenz, solidarischen Wirtschaftens und trans-mortaler Komplementarität einzubeziehen.
Für das andine Empfinden kann „Leben“ – und damit auch das „gut Leben“ – nicht vom selbst bestimmten und autonomen Individuum her interpretiert und dementsprechend umgesetzt werden. Eigentliches „Subjekt“ und Träger von „Leben“ ist die Gemeinschaft (ayllu), die sich als Mikro-Organismus konstituiert und sich dementsprechend auch um die kollektive Gesundheit, das Gemeinwohl und die rituelle und religiöse Harmonie sorgt. Nicht nur viele exklusiv andine Krankheiten (mancharisqa; khara khara; allpa hap’isqa; qayqasqa; wayra, usw.) zeugen von der Wichtigkeit dieses kollektiven Organismus oder des „eingebundenen Individuums“ (individuo vinculado), sondern auch die Tatsache, dass der Begriff der ‚Person’ gerade nicht vom Individuum, sondern vom Paar und der Familie her gefüllt wird. Es kann einem also sicherlich nicht „gut gehen“, wenn es den Menschen um sich herum schlecht geht. Wie „Leben“ alles und jedes (auch das Göttliche und Spirituelle) einschließt, so auch das „gut Leben“: In gewissem Sinne kann niemand von suma qamaña/allin kawsay sprechen, solange es Menschen gibt, die Hunger leiden, solange die Natur – die Pachamama oder „Mutter Erde“ – vergewaltigt und mit Füssen getreten wird, und solange die künftigen Generationen keine Aussicht auf ein Leben in einer relativ unverseuchten und gewaltfreien Umwelt haben.
Damit können wir als wesentliche Elemente der andinen Konzeption des „gut Lebens“ (suma qamaña/allin kawsay) die folgenden festhalten:
• Es handelt sich um einen dynamischen (Verb) und nicht um einen statischen (Substantiv) Begriff. Es geht um einen ständigen Prozess und nicht um einen Zustand, der einmal erreicht sein wird.
• Die Konzeption des ‚Lebens’ ist im andinen Kontext allumfassend und übersteigt bei weitem das rein Biologische. Es handelt sich – um in abendländischer Terminologie zu sprechen – um ein transcendentale.
Das „gut Leben“ orientiert sich deshalb an den grundsätzlichen Kategorien der andinen Philosophie und Weisheit. Dabei ist das Prinzip der Relationalität entscheidend, dem gemäß alles mit allem zusammenhängt.
• Jegliche Veränderung im Sinne von „Verbesserung“ oder „Verschlechterung“ einer Situation, eines Lebewesens, einer Handlung oder der Lebensqualität hat Auswirkungen auf die entsprechenden (Komplementarität und Korrespondenz) Aspekte anderer Wesen und „Orte“ (topoi).
• Das „gut Leben“ ist weder anthropo- noch androzentrisch, sondern schließt die außermenschliche Natur, die Ahnen, Verstorbenen, die künftigen Generationen, die Geistwelt und das Göttliche ein.
• Das andine „gut Leben“ basiert auf dem Ideal des kosmischen Gleichgewichts oder der universalen Harmonie (‚Gerechtigkeit’), das sich auf allen Ebenen und in allen Hinsichten ausdrückt.
• „Gut Leben“ im andinen Sinne impliziert keinen Komparativ oder Superlativ, womit das Prinzip der niversalisierbarkeit (oder „Kosmisierbarkeit“) nicht mehr gegeben wäre.
• Die andine Utopie des „gut Lebens“ ist nicht das Ergebnis einer im linearen Zeitverständnis verwurzelten Ideologie des Fortschritts oder unbeschränkten wirtschaftlichen Wachstums. Die eigentliche ‚Zukunft’ liegt in der ‚Vergangenheit’.
• Das andine „gut Leben“ hat demnach kosmische, ökologische (im Sinne einer spirituellen oder gar metaphysischen Ökologie), spirituell-religiöse, soziale, wirtschaftliche und politische Dimensionen”.
Josef Estermann. Interkulturelle Philosophie / Andine Philosophie
Eine Anthologie.Digitale Edition
Barcelona 2021